Als wir nach Castro einrollen, wird nicht nur der Bus langsamer. Ich schaue aus dem Fenster: Es sind viele Leute auf der Straße, doch trotzdem wirkt alles wie in Zeitlupe: Der Verkäufer im Elviskostüm, der einer Frau frische Früchte anpreist. Die dickliche Chilenin, die ihre Einkäufe nach Hause trägt. Das knutschende Pärchen am Hauptplatz, das die Finger nicht voneinander lassen kann. Der alte Chilene, der den Gehweg vor der alten und für die Insel so typischen Holzkirche säubert. Der Bus parkt ein. Seine Türen öffnen sich. Und plötzlich sind auch wir mitten drin: Im Inseltempo von Chiloe.
Viele Kirchen, viel Wasser und viel Zeit.
„Und, was gibt es hier jetzt also zu sehen?“, frage ich Kathi, während wir vor der gelben Kirche von Castro stehen. „Kirchen.“, sagt Kathi. „Kirchen. Und nochmal Kirchen!“ Insgesamt 150 Holzkirchen stehen auf der Isla Chiloe. Seit 2000 sind diese sogar UNESCO Weltkulturerbe. Ich blinzle auf die grellgelbe Blechplatten-Fassade der Kirche und ihre Pinien Türme. Holz schaut anders aus, denke ich mir. Wir marschieren zum Seiteneingang der Kirche, langsam ziehe ich die Türe auf. Und plötzlich stehe ich im Wald. Zumindest riecht es so. Ich schaue an die Decke, auf die Bänke, an die Säulen, zum Altar. Alles Holz. Ich lasse mich auf die Bank sinken und schließe die Augen. Ausschauen tut sie eben wie eine Holzkirche, von denen ich in Schweden bereits ein paar wunderschöne Exemplare gesehen habe. Was mir viel besser gefällt, ist der unglaubliche Waldgeruch. Und als würde mich das Inseltempo nicht sowieso entschleunigen, schaltet mein Geist nochmal einen Gang zurück.
„Und jetzt?“ Kathi und ich schauen uns an, als wir die Kirche verlassen. „Palafitos?“, frage ich. Kathi nickt langsam. Wir schlendern los. Kann es sein, dass auch unser Gehen langsamer geworden ist? Bisher habe ich mit Kathi ein ordentlich hohes Reisetempo gehabt. Eines, dass selbst mir manchmal zu schnell war. Für mich ist es in den letzten Monaten wichtiger geworden, zu genießen was ich sehe, anstatt von einem Ort zum nächsten zu hetzen. Während ich am Anfang meiner Reiselust ein wahrer „Hotspot-Jäger“ war, suche ich jetzt mehr nach den tiefergehenden Erlebnissen. Während wir am Ufer von Castro entlang spazieren und auf die bunten Stelzenhäuser, die „Palafitos“, blicken, weiß ich, dass ich diese Ruhe und dieses Tempo gerade mehr genießen kann als meine beste Freundin, der die Langsamkeit und die Ruhe der Insel noch schwerer fällt.
Ein Spaziergang mit Einblick statt Ausblick.
„Vielleicht hat er ja ein Auto.“, grinst Kathi. Wir blicken uns nach dem Typen am Nebentisch um. Ungefähr unser Alter und alleine hier. „Echt?“, frage ich sie. Ich bin bei uns immer diejenige mit mehr Kontaktangst. So schnell kann ich gar nicht schauen, steht Kathi bei dem jungen Mann und fragt ihn woher er denn ist und ob er Tipps für uns hat für die Insel. Ich tänzle von einem Fuß zum anderen. Er heiß Sebastian und ist beruflich hier, ist ursprünglich aus Santiago. Kein Auto. Morgen reist er wieder ab, sagt er, und ob wir noch einen kleinen Spaziergang machen wollen? Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden und die Straßen sind leer. Wir spazieren durch das leergefegte Castro, vorbei an geschlossenen Läden, an schwach beleuchteten Pubs und dunklen Ecken. Sebastian erzählt uns, dass Chile von einigen wenigen reichen Familien regiert wird, dass der Mindestlohn bei 350 Euro liegt und dass man sofort erkennt, wer ein Chilene und „wahrer Chilene“ ist. Er deutet auf Kathis Marken-Jacke. „Wir Chilenen erkennen Europäer schon allein daran was sie anhaben. So eine Jacke können sich gerade mal 5% der Bevölkerung leisten. Und genau deshalb sind wir oberflächlich: Wir beurteilen Menschen nach dem was sie anhaben, weil es zeigt wer sie sind. Wenn du also als Chilene etwas gelten willst, gibst du viel Geld für europäische Marken aus. Ich hab selber eine solche Jacke.“, sagt er. Er selbst ist einer jener, die es sich leisten kann. Er ist bei einem Unternehmen mit Sitz in Belgien angestellt, hat ein gutes Einkommen und eine gute Wohnung. Aber nicht nur das ist Chile, sagt er, während ein Bettler zu uns schleicht und uns um Geld bietet. „Auch das ist Chile!“
Wie zuhause.
Er lächelt uns freundlich an, als wir aus dem Bus nach Achao aussteigen. Dank dem jungen Mann haben wir überhaupt erst den richtigen Weg nach Achao, auf eine der vielen Inseln von Chiloe, gefunden. Wir blicken uns um, als er uns plötzlich anspricht: „My wife is in the supermarket. In you want to see the Island, we can drive you.“ Er grinst uns freundlich an. „Meet here?“ Er nickt fragend. Wir schauen verwirrt. „In one hour? „, sage ich. „Si!“, sagt er und spaziert davon. Wir blicken ihm nach.Nach dem Besuch einer weiteren Holzkirche – more of the same – und einem kleinen Fischmarkt, kommt der junge Mann plötzlich in Begleitung entgegen. „This is… my wife. She is… english teacher!“ Eine junge sympathische Frau grinst uns an. In perfektem Englisch erzählt sie uns, dass sie und Sebastian, ihr Mann, gemeinsam mit ihren zwei Söhnen erst vor rund einem Jahr nach Achao gezogen sind. Vorher hat die kleine Familie in Santiago gewohnt. Doch für ihre Söhne und sie wollten sie mehr Ruhe, gesunde Luft und vor allem Zeit. Und davon gibt es auf der Isla Chiloe genug. „So, you want to go sightseeing?“, fragt uns Pabla nach dem kurzen Plausch. „Oh yes!“, sagen wir. „But have you had lunch?“, fragt sie. Mein Magen antwortet mit einem Knurren. Sie hält uns ein weißes Plastiktütchen entgegen. „So first lunch!“, sagt sie. Und so sitzen wir zwei Minuten später im Auto zum Haus von Pabla und Sebastian.
Sie freut sich, dass sie wieder einmal Englisch sprechen kann, sagt Pabla, während wir bei einem Kaffee sitzen und Kekse in das süße Manjar tunken. Ein kleiner geschmückter Christbaum steht im Wohnzimmer, dahinter sieht man durch die großen Fenster auf das offene Meer und die umgebenden Nachbarinseln. Während Pabla in der Küche herumwuselt, sitzt Sebastian bei uns am Tisch und erzählt uns, dass in Chile am 24. Dezember um Mitternacht die Bescherung stattfindet. Wenn ihm mal das englische Wort nicht einfällt, versucht er es auf Spanisch. Ich nicke ihm zu, denn nach über einem Monat Südamerika verstehe ich schon einiges. Während Pabla zu kochen beginnt, führt uns Sebastian mit der Familienkutsche zu zwei kleinen Aussichtspunkten auf der Insel, von der aus man auf die vielen kleinen und großen Inseln um Chiloe blicken kann. „Some people say, that there is an island where only one man is living.“, erzählt er uns. Aber die Leute sagen hier viel…
Von Waldmenschen und Seegöttinen.
„Stimmt“, beantwortet Pabla unsere Frage, als wir beim Esstisch der Familie sitzen. „Auf Chiloe glauben die Menschen an Sagenwesen. Hier gibt es eine eigene Mythologie.“ Ich schaufle mir einen Löffel Couscous in den Mund und nippe vorsichtig an dem Apfelwein, der typisch für die Insel ist, und ein bisschen wie Apfelessig schmeckt. Trauco, erzählt Pabla, ist ein Männchen aus dem Wald, der junge Frauen im Schlaf besucht, sie verführt und schwängert. „Eine gute Ausrede für ungewollte Schwangerschaften!“, sagt Pabla, was ich mir denke. Sie erzählt weiter. Über Invunche, eine entstellte Gestalt, die eine Höhle bewacht und mit der Milch einer schwarzen Katze und Menschenfleisch aufgezogen wurde. Oder Pincoya, eine Wassergöttin, mit langen blonden Haaren. Erscheint sie den Seeleuten und vollführt ihren Tanz mit Blick auf das Meer, naht eine fischreiche Zeit. Schaut sie jedoch in Richtung der Berge, haben die Fischer sich nicht zu freuen. Ich schaue durch das große Fenster auf das Meer. Keine Göttin. Trotzdem gibt’s am Abend für mich Fisch.
Allein und doch zusammen.
Es ist 7 Uhr morgens und meine Augen müssen aussehen wie zerquetschte Reiskörner. Gestern sind wir, nach einer wieder einmal langen Busfahrt in und einem Zwischenstopp im Kirchenmuseum und dem regionalen Museum von Ancud – weil es dort aufgrund des Regenwetters weder die berühmte Pinguinkolonie noch etwas anderes zu sehen gab – wieder in Puerto Montt angekommen. Kathi rührt in ihrem Tee. Ich wirble durch meinen Kaffee. So unterschiedlich wie unsere Frühstücksgetränke sind mittlerweile auch unsere Reisestile geworden: Während meine beste Freundin sich an Seen & Bergen nicht sattsehen kann und die permanente Bewegung sucht, möchte ich „leben“ wie es die Menschen hier tun, möchte Kontakte knüpfen, Neues an der Kultur entdecken und auch einfach mal nichts tun. Ich bin seit mehreren Wochen unterwegs und merke, dass mein Tempo langsamer wird. Aber das macht nichts, denn ich habe noch viele Wochen vor mir, darf noch so viel sehen auf diesem tollen Kontinent. Für Kathi geht es bald nach Hause und daher haben wir beschlossen, die letzten Tage unserer Reise wieder nur uns zu widmen. Und so reist Kathi wieder nach Argentinien, um sich an den Bergen & Seen aufzuladen und ich bleibe in Chile, fahre nach Puerto Varas und schaue was meine Tage dort so bringen. Der Abschluss einer Freundinnenreise. Alleine und doch zusammen.
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