Als ich aus dem Flugzeug steige, scheint die Sonne und es regnet gleichzeitig. Um mich herum sind nur kahle, grüne Felder und das kleine, verlassene Gebäude, welches sich schon Flughafen nennen darf. Ein Windstoß haucht mir einen kalten Begrüßungskuss entgegen. Willkommen in Patagonien.
Alte Freunde auf neuen Reisen.
„For you?“ Die Rezeptionistin schaut mich verwirrt an. Diesen mitleidigen Blick kenne ich. „Si!“, sage ich und hänge schnell ein „My friends will be here soon“ daran, um sicherzustellen, dass es sich nicht um zwei meiner unsichtbaren Freunde handelt. Sie nickt nur verwundert und drückt mir den Schlüssel in die Hand. Zimmer 19.
Ich schmeiße meinen riesigen Rucksack auf das kleine Bett am Fußende des riesigen Doppelbettes und setze mich kurz hin. Jetzt beginnt ein anderer Teil meiner Reise. Ab heute reise ich nicht mehr alleine. Ab heute beginnt der Teil der Reise, auf den ich mich fast am meisten gefreut habe: Das Reisen mit Freunde aus der Heimat. Doch plötzlich fühle ich, dass da nicht nur ein Gefühl der Freude ist. Irgendein Gefühl ist hier neu. Es ist die Angst. Wie wird es sein, nach dem Reisen alleine? Wie werde ich es finden, wieder mit jemanden so viel Zeit teilen zu müssen? Wie es sein wird, sich wieder auf jemanden einzustellen, nicht mehr einfach das zu tun, worauf man selbst gerade Lust hat? Kann es sein, dass man sich zu sehr ans Alleine sein gewöhnt? Dass man egoistisch wird? Ich denke an meine Reisen mit meiner besten Freundin zurück. Wir waren immer ein gutes Reiseteam. Egal ob bei unserer Rundreise durch Israel, bei einem Roadtrip durch Andalusien oder unserer ersten Rucksackreise mit süßen 15.
14 Uhr am Bahnhof. Nur dass ich vor dem alten, verschlossenen stehe, während Kathi und ihr Freund vor dem richtigen stehen. Ich marschiere in die neue Richtung, die mir Google Maps anzeigt. 10 Minuten. Nach 2 Minuten schaue ich zu Boden und entdecke, dass ein zotteliger Streuner, von denen es hier viele gibt, neben mir herläuft. Ganz langsam folgt er meinen Schritten, schnuppert ab und zu an meiner Hand und gibt ein leises Knurren von sich. Sein hellbraunes Fell ist an den Pfoten schmutzig und verklebt. Sein linkes Hundeohr hängt über sein Auge. Ich stehe an einer Straße, die bei uns eine 3-spurige Autobahn sein könnte, schaue links und wieder rechts. Kein Auto weit und breit. Vereinzelt stehen Häuser mit Wellblechdächern in der hügeligen, kahlen Landschaft. Doch auch deren Bewohner sind nirgendwo zu sehen. Nur ich und mein tierischer Begleiter. Ich schaue zu ihm hinab als wir die Straße queren, er schaut zu mir auf. Man findet auf Reisen so schnell Begleitung, denke ich als ich plötzlich in der Ferne einen blau-roten springenden Punkt sehe. Der kalte Wind trägt mir eine seit Jahren vertraute Stimme entgegen. Mein Herz macht einen Sprung und als ich sie in die Arme nehme, ist mein neuer Freund fort. Dafür ist meine älteste & beste Freundin endlich da.
Kathi ist aufgeregt. Nach fast 23 Jahren Freundschaft kenne ich sie. Sie redet schnell. Ich versuche ihrem Redeschwall nach meiner letzten Partynacht und den 3 Stunden Flug zu folgen: Busticket 1 zum Perito Moreno, morgen, zwei Zeiten, Busticket 2 für Sonntag, 5:30 Uhr, nach Puerto Natales. Ich grinse Kathis Freund an, der auch noch einen Tag mit uns in Argentinien verbringen wird, bevor wir weiter nach Chile fahren. Er grinst zurück. Seitdem ich auf meiner langen Reise bin, macht mir das „Vorplanen“ weniger Spaß wie davor. Ich lasse mich viel lieber treiben und organisiere mehr spontan. Doch dank Kathis guter Recherche haben wir 20 Minuten später ein unglaubliches Erlebnis und den Start unseres Mädelstrips in Händen.
Ein Spaziergang in der Eiszeit.
Es knackt vor mir. Fasziniert halte ich mich am Geländer fest, dass mich von der riesigen weißen Wand trennt und blicke auf die nicht enden wollende weiße Fläche vor mir. Das grelle Weiß brennt in meinen Augen. Ich blinzle schnell aus Angst etwas zu verpassen, während ich die Augen zu habe. Doch als ich die Augen wieder aufmache, steht er unverändert vor mir: der Perito Moreno Gletscher. Ich schaue über die breite Gletscherzunge: Wie spitze Stacheln überziehen Eistürme die mehrere Kilometer breite Zunge. Am Ende der Zunge fällt die weiß und blau schimmernde Eiswand steil in den Gletschersee, auf dem ganz viele kleine und große Eisplatten schwimmen, wie Puzzleteile. Der Wind weht und die Sonne scheint. Doch plötzlich donnert es. Ich schaue mich um. Keine Wolke. Es ist der Perito Moreno, der mit den Zähnen knirscht. Ein Geräusch, so laut wie eine Explosion, hallt plötzlich über den See und trifft mich wie ein Donnerschlag, als ein riesiges Stück Eis aus der steilen Wand bricht. Die Wellen des aufschlagenden Mauerstücks bringen das Puzzle aus Eisplatten zum Schwingen. Und dort wo das Stück abgefallen ist, klafft jetzt eine riesige hellblau schimmernde Eiswunde. Gefühlte 10 Minuten stehen Kathi, Richard und ich vor der Eismauer, im Bann von der Magie herabfallender Eisteile. Selbst als wir uns von unserem Aussichtspunkt losreisen, um die ganze Seite der Gletscherzunge zu begehen, beschleunigt sich mein Puls bei jedem Flüstern der Eismassen. Es bricht ein zweites Teil ab. Ein drittes. Ein viertes. Ich zoome mit der Kamera auf die herausbrechenden Teile. Doch als ich das Video am Abend im Bett anschaue, die Geräusche höre und die Wellen sehe, weiß ich: Kein Video der Welt kann dieses faszinierende Erlebnis festhalten!
Hallo Chile.
Richie schläft, als wir in den Bus nach Chile steigen. Er wird den Heimweg antreten, während Kathi und ich weiter nach Chile reisen. Nach drei Stunden Fahrt sind wir an der argentinischen Grenze. Der Bus hält. Der Motor läuft. Die Sonne scheint. Die zwei argentinischen Busfahrer steigen aus und verschwinden nach einem Begrüßungskuss mit den Zollbeamten in dem Zollhäuschen. Wir bleiben im Bus. 10 Minuten vergehen. Das müsste die erste Mate-Runde gewesen sein. Niemand kommt aus dem Häuschen. Ich lehne meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe. Die Luft hier drinnen wird weniger. 60 Menschen duften und atmen. Ich schnaufe. 5 Minuten vergehen. Es wird noch heißer. Ich reiße mir die 3 Schichten Gewand, die man hier in Patagonien normalerweise an hat, vom Leib und sitze nur mehr im sommerlichen Trägerleiberl im Bus. Ich lehne meinen Kopf wieder an die Scheibe, die mittlerweile nicht mehr kühl, sondern von einem feuchten Schleier überzogen ist. Ich schaue aus dem Fenster. Draußen steigen Menschen aus einem anderen Bus. Ich könnte die Scheibe einschlagen, denke ich. Nein, zuerst sollten wir es mit der Türe versuchen, besinne ich mich. Kathi hat dieselbe Idee und geht nach vorne. Die Türe bleibt zu. An die Scheibe hämmern und schreien? Mir ist so heiß. Einen Zettel mit einer Hilfebotschaft an die Scheibe halten? „Hilfe! Help! Open the doors!“ Mir fällt die spanische Übersetzung nicht ein. Mist. Gerade als mir die Idee kommt, einen Ohnmachtsanfall vorzutäuschen, kommen die zwei Busfahrer wieder aus dem Zollhäuschen und wir dürfen endlich aus dem Bus aussteigen. Nach dem Frischluftflash folgt die Ausreise aus Argentinien. Danach geht es wieder in den durchgelüfteten Bus. Für 10 Minuten. Dann stoppt der Bus wieder. Ich schaue aus dem Fenster. Das argentinische Zollhäuschen liegt 10 Meter hinter uns. Der Busfahrer steigt aus. In mir kriecht die nächste Panikattacke hoch. Wieder 30 Minuten ohne Luft und ich laufe hier Amok. Zum Glück werden wir gleich alle aus dem Bus gebeten – inkl. Handgepäck. Statt uns dürfen jetzt Hunde in den Bus. Während wir uns mit unserem gesamten Gepäck an den Migrationsschalter vorstellig machen müssen, schnüffeln Struppi & Rex an unseren Sitzen. Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und schaue auf die Reklametafel vor mir: „Kein Obst, keine tierischen Produkte, keine Samen.“ Ich denke an den Apfel in meiner Tasche und schaue zu Kathi. Im Bus haben wir unsere Jausenration Empanadas mit Käse und drei kleine Käsebällchen verstaut, einen weiteren Apfel und Nüsse sowie Müsliriegel. Ich schaue auf mein Einreiseformular, auf das dicke Kreuz bei „Ich habe nichts zu deklarieren“ und verwerfe den Gedanken, das Risiko eines Apfel-Schmuggels einzugehen. Als ich meinen Rucksack auf das Mini Laufband lege, reiche ich meinen saftig grünen Apfel demütig der Zollbeamtin und ernte für meine Ehrlichkeit einen bösen Blick. Heute kein Risiko, schließlich liegen 4 Wochen Chile vor mir. Und die können mich ruhig einen Apfel kosten. Aber nicht nur den, sondern auch ein paar Nerven und zwei Käsebällchen. Die sind nämlich dem Hund zum Opfer gefallen. In diesem Sinne: Bienvenidos a Chile!
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